Aber heute?

Feder

“Schnee von gestern”, sagte die Elster und breitete ihre Flügel aus, stiess mit ihren dünnen Vogelbeinen vom Boden ab und flog davon.

“Was meinte sie wohl?” dachte die Maus. “Sie ist doch sonst so gesprächig, aber heute … ?”

Sie hatten eine Abmachung. Die Elster brachte ihr Nüsse aus der Umgebung, und die Maus grub allerhand Essbares aus der Erde. Da der Winter noch nicht da war, blühte der Handel. Und meistens erzählte  die Elster auch das Neueste von nah und fern. Aber heute …?

Heute war die Elster wortkarg. Ihre schwarzen Augen blitzten nicht wie sonst. Auch flatterte sie nicht mit ihrem schwarz-weiss-blauen Federkleid, um zu zeigen, wie schön sie war.

Am nächsten Tag kam die Elster wieder zu der Maus, ohne Nuss, traurig und matt.

“Was hast du?”, fragte die Maus.
“Ich weiss nicht, wozu ich nützlich bin”, antwortete die Elster.
“Aber du bringst mir doch jeden Tag Nüsse!”
“Das reicht doch nicht! Ich möchte so hoch fliegen wie der Milan! Ich möchte so farbig sein wie der Eichelhäher! Ich möchte so lustig sein wie die Kohlmeise und ich möchte mich manchmal verkriechen so wie du.”

“Oh, das ist wirklich traurig. Da hat es meine Freundin tausendmal besser als du!”
“Echt? Wieso? Erzähl!”

“Wenn ich hier auf meinem Erdhügel sitze, sehe ich sie schon von weitem mit ihrem breitgefächerten Schwanz und den Fingerflügeln. Ich erkenne sie sofort und brauche mich nicht zu fürchten. Dann schenkt sie mir eine Nuss und beginnt lustig von den Farben in der Welt zu erzählen.
Ich habe sie sehr gern, weisst du, und ich freue mich jeden Tag auf ihren Besuch.
Und noch etwas: Baumnüsse sind für mich zu gross zum Knacken, aber ich sage es ihr nicht, weil ich es immer so gemütlich finde hier mit ihr hinter dem versteckten Erdhügel zu plaudern.”

Lange sitzen Elster und Maus beim Erdhügel und schauen in die Weite ……… der Landschaft ………. in ihnen drin.

Da breitet die Elster ihr wunderbares Gefieder aus und lässt ihre Augen listig aufleuchten, fliegt davon, um wenig später wieder zu kommen. Im Schnabel eine halbe Nuss. Kurz darauf holt sie auch noch die andere Hälfte. Zusammen klauben sie die Frucht heraus und fressen sie  genüsslich.

“Danke, Maus, du bist ein echter Freund! Gerne teile ich mit dir meine Nüsse”, jubelte die Elster und flog glücklich kreischend davon.

“Bis morgen!”

 

Unsichtbar

die frau

Ich bin da. Ich nehme wahr.
Da klingt etwas! Hallo! Ist da jemand?

Wie gerne würde ich mit dem Unsichtbaren sprechen. Fragen stellen und noch lieber zuhören.

Haaalloo! Was immer da tönt, ich höre zu. Wie geht die Geschichte?

Es war einmal eine Frau. Sie wollte zuhören, aber sie traute sich nicht. Jedesmal, wenn es ganz klar zu klingen anfing, hörte sie nur noch auf ihr Geplapper im Kopf, nistete sich dort wohlig ein, denn dort fühlte sie sich zu Hause. Bis der Lärm im Kopf immer lauter wurde. Sie versuchte mit aller Anstrengung da rauszukommen, um die klaren Klänge wieder zu hören.
Und so ging es Tag für Tag, Jahr aus Jahr ein, hin und her.

Eines Nachts stand sie da, im Traum, im Dunkeln, atmete und horchte – nicht. Weder auf ihren Traum, noch auf ihren Wecker, noch auf das Getöse innerhalb ihres Körpers, noch auf die Stille der Nacht.

Sie ahnte. Da war etwas. Weit, weit weg. Und es kam immer näher. Lautlos. Im Flug ein magischer Tanz. Ein Hauch. Ein Schrei! Ein endlos langer Schrei. Ein Weckruf!

Die Frau steht da und sie nimmt wahr.
Da ruft etwas. Nicht draussen, tief in ihr drin. Ganz weit weg und doch so nah. Unsichtbar und voller Urkraft.

Ich beginne zu verstehen – tief bewegt vom gedankenlosen Wissen.

Der Mantel

der mantel

Schnell weg. Mir ist das Ganze nicht mehr geheuer. Ich war viel zu lange in diesem Mischmasch. Wie konnte ich nur? War ich denn die ganze Zeit so blind?

Ich hasse Unklarheiten, Widersprüche, Verwechslungen. Man ist entweder Fisch oder Vogel, aber sicher nicht beides!
Und nun wird mir genau das vorgeworfen. Da kommt diese graue Gans und sagt mir alles, was ich sicher nicht sein will, und schon gar nicht bin, direkt ins Gesicht. Ha! Dass ich nicht lache. Soll sie doch selber in den Spiegel schauen, sie hat ja keine Ahnung!

Also, ich gehe jetzt und lasse mir nichts mehr bieten.

ich bin ………. unterwegs
ich bin ………. in Gedanken
ich bin ………. voller Gespräche
ich bin ………. voller Rechtfertigungen
ich bin ………. unsicher
ich bin ………. verwickelt

ich gehe ………. barfuss und es pieckst manchmal
ich gehe ………. nach Hause
ich gehe ………. schnell

ich will ………. dass die Luft mich zerzaust
ich will ………. das Herz in meinen Ohren schlagen hören
ich will ………. den Weg sehen, den ich gehe
ich will ………. die Suppe essen, die ich mir zugemutet habe

Denn, wenn du meinst, ich könne diesen Mantel einfach ausziehen und ich käme hervor, täuschst du dich. Dies ist keine Verkleidung.

Ich habe ………. Angst
Ich habe ………. Scham
Ich habe ………. Freude
Ich habe Federn auf dem Kopf und Flossen auf dem Rücken.

Die Drei

die drei nornen (1)

Wir sind drei. Immer da. Zusammen. Die eine folgt der anderen. Überallhin.
Manchmal nervt’s, weil jede gerne die Wichtigste ist. Dann fliegen die Fetzen. Es wird erbittert gekämpft. Mit Argumenten, wilden Blicken, ja sogar mit Händen und Füssen.
Ein kleines Lüftchen kann zu einem Orkan werden:
Du! Nein ich! Nein die da! Immer! Nie! Und überhaupt! Diese Arroganz! Du bist ja nur neidisch! Und du eingebildet! Zerstörerin! Wut! Blut!

Jede von uns rennt um ihr Leben. Schutz suchend, Bestätigung suchend, Liebe suchend.

Doch jedes Mal ist es dasselbe: Das Herzblut spinnt einen Faden. Mit seinem Rhythmus gibt es dem Lebensrad den Schwung:

Woher komme ich?
Wer bin ich?
Wohin gehe ich?

Woher komme ich?
Wer bin ich?
Wohin gehe ich?

Woher komme ich?
Wer bin ich?
Wohin gehe ich?

Wo………………

Der rote Faden wickelt euch in eure Geschichten. Jeden Tag ein bischen mehr. Führt euch zur Erkenntnis, ins Wissen. Ihr ergattert eure Vollmacht über euer Leben und ihr versucht immer wieder die Kraft, die Schönheit, die Weisheit und die Wildheit darin zu erkennen.
Und wenig später sieht alles wieder anders aus …

Und so sind wir drei Schicksalsgöttinnen wieder zusammengerückt.
Aber entscheidet IHR, wer von uns die Wichtigste ist:

Die Vergangenheit?

Die Gegenwart?            oder

Die Zukunft?